Und wieder ist Fastenzeit. Ich kann mich erinnern, dass ich in ganz jungen Jahren exzessiv gefastet habe, Saft-, Bouillon- und Teefasten. Noch bevor ich 20 war, hatte ich eine ausgeprägte asketische Phase, von der ich mir eine erweiterte Erkenntnis versprach. Ich hatte tatsächlich intensive geistige Höhenflüge – und auch intensive körperliche Erlebnisse. So bin ich einmal während des Fastens acht Stunden in den Bergen gewandert – und hätte noch länger wandern können. Beim Schwimmen erging es mir ähnlich – die Umstellung auf Nicht-Essen setzte unglaubliche Kräfte frei. Das waren spannende Erfahrungen. Gleichzeitig habe ich während der Umstellung meistens auch ziemlich gelitten – vor allem starke Kopfschmerzen, Niedergeschlagenheit und körperliche Schwäche. Ausserdem wurde das Fasten zu einer Art Sucht - die Sucht, Kontrolle über mich und mein Verhalten zu bekommen.
Zu einem späteren Zeitpunkt habe ich jährlich ein Yoga-Fasten mit Gemüse, Reis und Mungobohnen durchgeführt. Der Verzicht auf Kaffee hat manchmal einen grossen Teil meiner Aufmerksamkeit beansprucht – während der Büroarbeit eher störend. Ich habe das Fasten immer mehr vereinfacht und andere Formen von vorübergehendem Verzicht dazugenommen – Netflix-Fasten zum Beispiel. Zunehmend wurde aus dem Verzicht „Was anstatt Verzicht“ – und habe nebst dem Alkohol- und Zuckerfasten tägliches Mantrasingen gewählt, zehn Minuten Frühlingsputz plus Leberwickel mit Schafgarbe.
Daheim, im Zug, im Computertomografen
Jetzt schätze ich das tägliche Fasten fürs Gehirn: Yoga Nidra. Es braucht dazu keine Umstellung – ich brauche dazu nicht einmal zwingend eine liegende Haltung. Wenn ich sehr unruhig bin, gelingt es mir im vollbesetzten Zug im Sitzen manchmal sogar besser, meine Gedanken auf die Stimme, die anleitet, zu richten und ihr zu folgen. Ich habe auch schon im Computertomografen Yoga Nidra gemacht, zum Klopfen des Geräts und der Radiomusik über die Kopfhörer. Ohne Anleitung habe ich es tatsächlich geschafft, die Geräusche, das Radiogedudel und mein Unwohlsein in der Röhre auszublenden und spontan eine meiner Anleitungen abzurufen und durchzuführen. Und ich bin kein Mensch, dem Fokussieren leicht fällt, im Gegenteil.
Da ich aufgrund meiner Hochsensibilität schneller als andere an Übererregbarkeit leide und länger brauche, bis ich in einen tiefenentspannten Zustand komme, übe ich überdurchschnittlich lang, nämlich im Schnitt eine Stunde Yoga Nidra pro Tag. Ob die Erfahrung in der Röhre diesem Umstand zuzuschreiben ist, weiss ich nicht. Aber ich weiss, dass die tägliche Praxis – auch wenn sie deutlich weniger lang dauert als eine Stunde – zu einer Gewohnheit wird und dieselbe Wirkung entfaltet wie eine Gewohnheit. Ich überlege nicht, ob ich Yoga Nidra mache oder nicht – beim Zähneputzen muss ich auch nicht überlegen. Und es ist viel einfacher, angenehmer und gefahrloser als exzessiver Verzicht auf Essen.
312 Tage pro Jahr fasten
Anstatt 40 Tage praktiziere ich im Durchschnitt 312 Tage pro Jahr Fasten fürs Gehirn und für den restlichen Teil meines Wesens. Während dieser Stunde Entschleunigung und Beruhigung des Nervensystems werden nicht nur die Nervenbahnen zum Hirn gereinigt. Durch den systematischen Bodyscan wird der Energiefluss im Nervenkreis in der weissen Gehirnsubstanz gesteigert. Wird diese vitale Nervenenergie durch den Rückzug der Sinne frei, der Körper sie zur Heilung und Revitalisierung überbeanspruchter Drüsen und Organe einsetzen. Es passiert also etwas Ähnliches, wie wenn ich auf Essen verzichte – nur angenehmer, gemässigter und möglicherweise gerade deswegen nachhaltiger, solange ich regelmässig praktiziere. Im Wesentlichen machen wir auch etwas sehr Ähnliches: Wir pausieren. Bei Yoga Nidra nicht mit Essen, sondern mit Aktivität. Die Aktivität beschränkt sich auf die Wahrnehmung nach innen. Durch die Stille, die eintritt, können wir uns wieder auf das Wesentliche besinnen. Sich neu besinnen ist ursprünglich ein Ziel der Fastenzeit im Christentum.
Die selbstständige Yoga-Nidra-Praxis ist unspektakulär und günstig. Wer sie einmal kennen gelernt hat – dazu braucht es keine Vorkenntnisse, lediglich ein paar praktische Informationen zur Durchführung – kann im Prinzip mit einer einzigen Audiodatei ein Leben lang praktizieren, vielleicht nach einer gewissen Zeit sogar ohne Anleitung. Ich meine, diese Form von Fasten ist sehr attraktiv, sehr menschenfreundlich und nachhaltig wirksam.